Stellungnahme zu dem Textauszug des Spiegels aus dem Buch Thilo Sarrazin – Deutschland schafft sich ab
In seiner 34. Ausgabe 2010 veröffentlicht der Spiegel einen Textauszug aus Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Thilo Sarrazin versucht hier eine Erörterung zum Thema Integration in Deutschland zu führen und Fehler aufzuzeigen.
Direkt zu beginn des uns vorliegenden Auszuges beschreibt Sarrazin ein „Recht der Gesellschaft“ und „der Länder, zu entscheiden wen sie Aufnehmen“, ebenso wie er ein Recht auf die „Wahrung der Kultur und Traditionen“ beschreibt. Sarrazin macht hierbei mehrere Fehler, zuerst übergeht er, dass dieses Recht nicht nur nicht existent ist, sondern zu allem Überfluss ein Recht wäre, das so schlicht und ergreifend nicht umsetzbar ist. Im großen Kontext gesehen ist die Gesellschaft identisch mit der Weltbevölkerung, da jeder mit jedem auf eine Gewisse Art und Weise im Austausch steht und auch miteinander agieren muss. Das betrifft einzelne Personen mehr, andere weniger, aber alle müssen zumindest Information austauschen, miteinander Leben und mit oder gegeneinander Agieren. Diesen Austausch nennt man Gesellschaft. Beschränkt man den Gesellschaftsbegriff räumlich oder zeitlich beschreibt er eine sich ständig ändernde Menge bzw. Teilmenge der Bevölkerung die im akuten Austausch miteinander steht, auch hier ist eine Aus- oder Eingliederung anderer nicht kontrollierbar, nachdem sie der Akt der Aus oder Eingliederung bereits zu Informationsempfängern und damit Teilen dieser Gesellschaft würden.
Sarrazin übersieht desweiteren, dass weder Kultur noch Tradition statische Begriffe sind. Sowohl Kultur als auch Traditionen haben sich - beinahe – unsere gesamte Geschichte hindurch verändert und sind dadurch zu dieser von Sarrazin hochgehaltenen deutschen Kultur geworden. Sarrazin bewegt sich hier – offensichtlich ganz bewusst – auf einer Argumentationslinie mit der sich die NPD bereits seit Jahren selbst bloß stellt. Kultur muss sich auch verändern um sich den Umständen und der Zeit anzupassen, technischer Fortschritt erfordert auch eine Änderung des Verhaltens der Menschen die mit diesem technischen Fortschritt leben. Die Anpassung der Lebenskultur an veränderte Lebensumstände ist also eine logische Notwendigkeit. Wenn Kultur sich nun aber ändert, ist es logisch, dass die Menschen die mit ihr Leben (müssen) und an einer Gesellschaft teilhaben diese Änderungen beeinflussen.
Die schlimmsten Zeiten in der Geschichtsschreibung waren immer diese zu denen Stillstand herrschte, als Beispiele sind das Finstere Mittelalter anzuführen oder das Naziregime, wo eben diese Kultur und diese Gesellschaft von der wir sprechen in einen statischen Rahmen gepresst wurde und äußere Einflüsse bewusst abgewehrt wurden. Eine Fortentwicklung hat hier quasi nicht stattgefunden. Die Geschichte weist schwarze Löcher auf.
Sarrazin fordert nun, dass seine Urenkel in 100 Jahren noch in Deutschland leben können und führt danach direkt an, was er nicht möchte: Dass dieses Land „muslimisch“ ist, Frauen Kopftücher tragen, türkisch oder arabisch gesprochen wird und Muezzine den Tagesrhythmus bestimmen. Selbst wenn wir nun vernachlässigen, dass diese Tendenzen nicht existieren und ignorieren, dass die Momentan größte Gefahr für einen deutschen Nationalstaat die Idee „Europa“ ist, sehe ich keinen wirklichen Grund inwiefern eine Ausbreitung des muslimischen Glaubens das Recht auf Freizügigkeit beeinträchtigen könnte. Wenn seine Urenkel allerdings derart rassistische Tendenzen wie Hr. Sarrazin selbst aufweisen, hoffe ich durchaus, dass sie nicht in Deutschland leben können, weil die Bevölkerung es in den nächsten 100 Jahren schafft erwachsen genug zu werden um keinen Platz mehr für „-ismen“ zu haben. Desweiteren sehe ich seinen Willen hier als völlig irrelevant an. Man kann doch nicht in einem Atemzug von der Gesellschaft reden, die überhaupt keine sei und im nächsten seine persönlichen Interessen über die dieser Gesellschaft stellen. Um in aller kürze auf die Forderungen an sich einzugehen: Wer welcher Religionsgemeinschaft angehört sollte ganz genau diese Person etwas angehen, die sich die Religionsgemeinschaft aussucht. Niemanden sonst. Hierzu weise ich auf Art. 4 GG hin. Was es Herrn Sarrazin ficht, welche Kopfbedeckung wer trägt versteh ich auch nicht ganz, aber ich empfehle ihm einen Besuch in einem Schwäbischen Bauernhaus, Muslime wird er dort nicht finden, Kopftücher schon. Die größte Gefahr für die deutsche Sprache wiederrum, dürfte im Zuge der Globalisierung Englisch sein und weder türkisch noch Arabisch. Und Muezzine werden selbst von ultranationalen türkischstämmigen Vereinen nicht gefordert. Was also soll ein derartig Populistisches Geschwätz? Kurzum: Selbst wenn sich alles so entwickeln würde wie Sarrazin sich das ausmalt, so wäre das noch lange kein Widerspruch zu der Forderung dass seine Enkel hier leben können sollten.
Seine Ausführung zur Erstarkung des Rechtsradikalismus durch das von ihm skizzierte Integrationsproblem dürfte kaum einer näheren Beleuchtung wert sein. Rechtsradikalismus ist vorallem darum attraktiv, da er scheinbar simple Lösungen für komplexe Probleme anbietet und diese sehr populistisch vertritt. Zumindest der abgedruckte Ausschnitt dürfte ihm hierbei sehr dienlich sein.
Seiner Theorie über die Islamisierung über Geburten in Einwandererfamilien kann ich auch nicht ganz folgen. Sarrazin behauptet hier, dass durch die höhere Geburtenrate „der Deutsche“ schlichtweg verdrängt wird, bzw. die Gesellschaft an sich schrumpfen würde, würde sich die Geburtenrate in Einwandererfamilien der momentanen deutschen anpassen. Jeder der sich einmal eine Statistik mit Geburtenraten angesehen hat, sieht dass diese zu Hochzeiten der Wirtschaft und Gesellschaft zurückbilden, bei bedarf allerdings wieder anwachsen, diese Trends sind seit Jahrtausenden zu beobachten und Aussagen über die Bevölkerung über einen Zeitraum von 3 oder 4 Generationen zu treffen ist schlichtweg purer Irrsinn. Ein realistischer Zeitraum wäre vllt. 9 Monate, das ist ein Bereich in dem sich Geburten abschätzen lassen. Vielleicht sogar 5 oder 6 Jahre, aber selbst renomierteste Statistiker halten sich mit Demographischen Aussagen über mehr als 10 Jahre tunlichst zurück und bieten viele Optionen, werden sie tatsächlich zu einer Aussage genötigt. 9/11 hat eindrucksvoll bewiesen, wie schnell Statistiken Lügen gestraft wurden – die New Yorker Bevölkerung hatte Angst, war paralysiert und hat das getan, was man tut, wenn man Angst um das Fortbestehen seiner Art hat: Sie haben sich vermehrt. 9/11 hat insbesondere in New York zu einem absoluten Geburtenboom geführt. Der Mensch mag einige schlechte Eigenschaften haben – aber er kann erstaunlich schnell auf äußere Einflüsse reagieren. Hier empfehle ich Sarrazin sich mit dem Arterhaltungstrieb auseinander zu setzen, der durchaus auch schon Gegenstand einiger Forschungsarbeiten war. Warum wir das „soziale und wirtschaftliche Zusammenleben“ bei einer geringeren Bevölkerungsdichte grundsätzlich ändern müssten ist mir komplett Schleierhaft.
Er führt später noch an, dass bei momentaner Fertilitätsrate die „muslimische Bevölkerung“ bis 2100 auf 35 Millionen anwachsen kann, allerdings sprechen die Erfahrungen die bisher gemacht wurden eher eine andere Sprache – Menschen die in einer Wohlstandsgesellschaft leben Zeugen weniger Nachwuchs solang nicht notwendig, daher ist dieses Szenario unwahrscheinlich, aber auch hier gilt: Keine Aussagen über einen Zeitraum von 90 Jahren, das ist Irrwitzig.
Nachfolgend macht sich Sarrazin gedanken über den Beitrag der Einwanderer zum dt. Wohlstand. Hier nun, geht er folgendermassen vor: „Belastbare empirisch-statistische Analysen ob die Gastarbeiter einen Beitrag zum Wohlstand erbracht haben oder erbringen werden, gibt es nicht. Für Italiener, Spanier und Portugiesen wird man diese Frage wohl bejahen können […]. Für Türken und Marrokaner wird man sie sicher verneinen können.“
Es fällt mir schwer mich mit soetwas auseinanderzusetzen, da eine Diskussion auf einer nicht existenten Studie oder Statistik, die aber trotz ihrer nicht Existenz besagt, dass … nicht besonders zielführend scheint. Eine belastbare Statistik gibt es nicht, also sagt sie auch nichts aus.
Nachfolgend erörtert Sarrazin noch, dass die muslimische Bevölkerung in Europa die Staatskassen mehr kostet, als sie einbringen, die niedrige Erwerbsleistung der angesprochenen Bevölkerungsgruppe und die hohe Inanspruchnahme von Sozialleistungen.
Hier erweckt nicht die Ansprache eines Kernproblems der Gesellschaft meine Ablehnung gegen diesen Satz, sondern Aufbau und Religionsbezug. Es liegt Sarrazin offensichtlich nichts an einer sachlichen Debatte darüber wie man einen Ausländer vernünftig „eindeutschen“ kann, so dass er an unserem gesamten Leben teilnimmt, in Lohn und Brot steht und keinen Bedarf an Sozialleistungen hat, sondern er folgt dem Trend der Zeit und hetzt etwas über den Islam. Volker Pispers hat das einmal folgendermassen ausgedrückt „Wir deutschen haben doch kein Ausländerproblem, wir haben ein Türkenproblem. Es gibt massig nicht integrierte Japaner, aber das stört doch keinen, die leben unter sich, kommen zu Fasching zu den anderen und sehen auch ungeschminkt lustig aus.“ Viel deutlicher hätte man den Nagel nicht auf den Kopf treffen können. Seit 9/11 wird ein regelrechtes „Islam-Bashing“ betrieben um den Krieg gegen den Terror in den Köpfen der Leute zu legitimieren. Es geht überhaupt nicht mehr um eine sachliche, objektive Debatte, es geht darum ein Feindbild zu erschaffen. Der Muselmann mit Sprengstoffgürtel. Es werden laufend Gesetze zur Terroreindämmung beschlossen seit 2001, irrelevant ob Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, Telefonüberwachungen, etc. Wir werden nun alle vor dem Terror geschützt. Dies aber ist wiederrum der selbe Aktionismus wie die „Amoklauf Notfallpläne“ die in diversen Schulen verfasst wurden. Wenn jemand wirklich mit seinem Leben abgeschloßen hat und sich in die Luft sprengen will, wird sich dieser jemand nicht dadurch aufhalten lassen, dass ihm ein Jahr gefängnis droht. Und wie ist denn die aktuelle Gefährdungslage, wenn wir schon ständig auf dem Islam, nicht dem Islamismus sondern der gesamten Religion herumhacken? Selbst der Anschlag auf das World Trade Center hat weniger Tote gefordert, so tragisch er auch war, als die Verkehrsunfälle seit 9/11. Sarrazin begeht in seinem gesamten Text – und hier ganz besonders – durch diese Verunglimpfung einer Religion in ihrer Gesamtheit übrigens noch einen Fehler – er verhindert die von ihm geforderte Integration. Man kann nicht einerseits ein Feindbild bedienen und andererseits erwarten, dass die angehörigen dieses Feindbildes nacher in eine Struktur zwischen Menschen die dieses Feindbild haben aufgenommen werden. Wer würde, um es mal krass zu formulieren, einen Juden zwischen Nazis stellen, in der Hoffnung, dass sich ein gemeinsames produktives Handeln ergibt?
Sarrazin gibt nun also an, dass der Islam kulturellen und gesellschaftlichen Rückschritt statt Fortschritt bedeuten würde.
Hier kann ich ihm Tendenziell sogar recht geben. Die meisten Religionen haben das Problem Dogmatisch zu sein, und haben daher auch das Problem nicht dynamisch auf eine sich verändernde Welt reagieren zu können. Vom Wertebereich ist der Islam allerdings ziemlich identisch mit dem Christentum, von daher würde sich nicht allzuviel ändern. Generell ist hier aber eher nach einem säkularen Staat der unabhängig von jeglichen Religiösen Grundsätzen geführt wird und auf den Religion keinen Einfluss hat und haben darf. Hier ist uns die Türkei bereits ein weites Stück voraus. In der Türkei ist die Kirche strikt vom Staat getrennt und das seit ihrer Gründung. Das Kolleg der Schulbrüder in Illertissen hat Anfang diesen Jahres durch die Diskussion ob eine Schülerin die mit 18 aus der Kirche ausgetreten ist der Schule verwiesen wird, bewiesen, dass der deutsche Staat und die deutschen Kirchen noch nicht soweit sind. Das Kolleg wird vornehmlich aus staatlichen Mitteln finanziert, aber ein paar Religionsführer entscheiden hier über das Schicksal eines Menschen. Ebenso wäre hier die peinliche zur Schaustellung diverser Jesuskreuze in Schulen und öffentlichen Gebäuden zu nennen. Wir könnten viel lernen, wenn wir bereit wären über grenzen zu blicken, anstatt diese Imaginären Linien auf Kartenmaterial als absolut und Mauern zu sehen.
Sarrazins Schluß ist natürlich ein anderer, nämlich der, dass die hier lebenden Migranten eine Gefahr für unser Europa bedeuten.
Ich sehe die Gefahr eher bei Demagogen wie Hrn. Sarrazin, der sich hier wirklich alle mühe gegeben hat den von ihm angeblich geforderten Dialog im Keim zu ersticken. Frei nach dem Motto „Operation gelungen, Patient tot.“
Ich persönlich halte eine Integrationsdebatte für unumgänglich und absolut notwendig. Es sind viele Fehler gemacht worden und es werden auch weiter laufend Fehler gemacht, aber diese Fehler lassen sich nicht ausmerzen wenn angefressene Konservative das Rechte Spektrum durch neue Bücher bedienen und man der Thematik mit reinem Populismus begegnet. Integration lässt sich nur durch ein gemeinsam erreichen. Vor 2 Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, ist der Papst in eine Moschee gegangen. Dies wurde kontrovers diskutiert, war allerdings ein wichtiger Schritt um zu zeigen, das es durchaus auch ein Miteinander über die Grenzen der Religion hinweg geben kann. Wir brauchen mehr solche „Zeichen“. Und wir brauchen Menschen die aufeinander zugehen. Kinder die miteinander Spielen. Eltern die gemeinsam im Garten sitzen und Grillen, Sportveranstaltungen die gemeinsam besucht werden, Foren in denen gemeinsam diskutiert wird. Würde mir gegenübergetreten wie teilweise türkischstämmigen Mitbürgern seitens teilen der deutschen Bevölkerung hätte ich auch herzlich wenig Lust mich zu integrieren. Dazu kommt – wofür soll ich mir die Mühe machen, am Ende bin ich immer noch „nur der Türke“, es gibt keine Partei die mich bedient, niemand schert sich um meine Interessen und von Leuten wie Sarrazin werde ich als DAS Problem in der Welt wahrgenommen. Andererseits muss natürlich auch gesehen werden wie sich teile der türkischstämmigen Bevölkerung nach außen verhalten. Viele haben keine Identität, aus ihrer Heimat sind sie ausgereist, bei uns will sie niemand haben, es gibt keine Heimat, keine Identität. Barrieren sind nicht zuletzt über die Sprache vorhanden und man hat Zeit, viel Zeit. Also geht man in einer Leistungsgesellschaft in der man nur Zählt wenn man Pinke Pinke hat, in den Park und zieht jemand das Handy ab. Ist natürlich auch nicht schön, aber auch hier liesse sich vermutlich viel vermeiden, wenn die Kids gemeinsam im Sandkasten spielen. Der Multikulturelle Wundersandkasten. Warum Kinder? Kinder sind in einem Stadium in dem sie aufnahmefähig aber nicht vorbelastet sind. Dem Kind ist Aussehen, Alter, Kleidung, Symbolik völlig egal, das Kind will einfach nur die Welt kennen lernen. Die ganze Welt. Alles. Den Nachbar, den Geschmack des Sandes im Sandkasten, die tollen bunten Förmchen und das Kind neben sich, völlig egal woher es kommt, wie es spricht, was es isst und welcher Religion es angehört. Und hier wären auch die Eltern nicht mehr in der Lage in ihren eigenen Gruppen zu agieren, die Betreuung der Kinder erfordert Kompromisse von allen Seiten und auch Kommunikation untereinander. Ich denke ein vernünftiger Ansatz wäre eine Förderung von „Multikulturellen Spielgruppen“ und „Multikulturellen Eltern-Kind“ Veranstaltungen. Es müsste nicht viel Geld investiert werden, ehrenamtliche könnten die Organisation übernehmen und es würde gezwungenermaßen ein Dialog mit dem Nachbarn entstehen, dem sich niemand entziehen könnte. Für „uns Kinder“ werden Schulen und Kindergärten hochgelobt, da wir hier soziale Kompetenzen erlernen würden – Funktioniert das bei Eltern oder Türken nicht? Haben die – um in Sarrazins Hetzmanier zu bleiben – ein Türkengen, dass den vernünftigen Umgang mit Menschen verhindert?
Zum Schluß komm ich leider nicht umhin, noch ein sehr persönliches Wort abzugeben:
Sehr geehrter Herr Sarrazin, wie sie eindrucksvoll Beweisen, schafft sich Deutschland tatsächlich ab. Nur der Täter trägt in diesem Falle Anzug und Schlips statt Burka und Kopftuch.
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